Wien braucht einen neuen, zeitgemäßen, mutigen Zugang zu Kunst und Kultur

Presseinformation, 16.5.2018

 

Das 10-Punkte-Programm der Wiener Kunst- und Kulturszene und weitere Unterlagen und Statements als Downloads:
IG Freie Theaterarbeit – Forderungen an eine neue Kulturstadträtin der Stadt Wien
IG Kultur Wien – Forderungen Dezentrale Kulturarbeit und Raumpolitik
mitderstadtreden – Initiative für eine freie Wiener Musikszene
Förderungsentwicklung_Stadt Wien_1998-2016

10-Punkte-­Programm der Wiener Kunst-­ und Kulturszene

Die Wiener Kulturpolitik leidet unter existenzbedrohlichen Mangelerscheinungen. Wien hat in den letzten Jahren statt auf Entwicklung zunehmend auf Events und Effekte gesetzt. Nicht Planung und Nachhaltigkeit standen im Vordergrund, sondern Vermarktung und Gewinnmaximierung. Das drückt sich sowohl in einer stärkeren Hinwendung zu Großprojekten aus, wie auch in einer asymmetrischen Mittelverteilung, einem Zuwenig für die freie Szene.

Anstatt in die Erarbeitung und Umsetzung von Kulturstrategien zu investieren, hat die Stadt Wien verstärkt Energien und Mittel in die Eigenbewerbung gesteckt. Diese Herangehensweise schlägt sich zunehmend auch im städtischen Erscheinungsbild nieder. Einerseits wird der Stadtraum reguliert und eventisiert, andererseits wird die freie Kunst und Kultur mehr und mehr aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Städtisches Eigentum wird ausverkauft, bestehende freie kulturelle Nahversorger/innen werden ausgehungert oder zunichte gemacht. Statt Gewachsenes, Impulse und Initiativen der freien Szene „von unten“ zu fördern und aufzugreifen, um damit Entwicklungen zu ermöglichen, wird „von oben“ bestimmt.

Wien braucht dringend einen neuen, zeitgemäßen, mutigen Zugang zu Kunst und Kultur.

Vor diesem Hintergrund und dem Wechsel der Wiener Stadtregierung legen die Wiener Interessenvertretungen der Kunst und Kultur einen Maßnahmenkatalog vor, der im wesentlichen aus zwei Teilen besteht: erstens, aus einem Anforderungsprofil für die neue Kulturressortleitung, zweitens, aus den zur Verbesserung der derzeitigen Situation dringend notwendigen Maßnahmen.

1. Anforderungen an die Kulturressortleitung
Es braucht:

  • ein neues Amtsverständnis. Hauptaugenmerk muss hierbei auf Leistungen für zeitgenössische Kunst und Kultur liegen, nicht auf Repräsentation.
  • das Selbstverständnis, dass Kunst und Kultur Werte an sich sind, und ihren Wert nicht nur darin begründen, dass sie zu irgendetwas nützlich sind. Kunst und Kultur sind gesellschaftsbildend.
  • ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit und Streitbarkeit, um sich für den gesellschaftspolitisch hohen Wert von Kunst und Kultur stark zu machen.
  • Wertschätzung und Kenntnis des Kulturerbes und der Wiener Szene, vor allem der zeitgenössischen Kunstschaffenden sowie der verschiedenen zeitgenössischen Strömungen.
  • ein Verständnis für Zusammenhänge und Widersprüche zwischen zeitgenössischer Kunst und Kulturerbe.
  • ein klar definiertes Arbeitsprogramm mit Evaluierung nach jeweils zwei Jahren.
  • einen systematisierten Austausch mit und Einbindung von Vertreter/inne/n aller von Maßnahmen betroffenen Personengruppen und Einrichtungen, keine Audienzen.
  • ein gemeinsames Entwickeln von Programmen mit den Vertreter/inne/n aller von Förderungsmaßnahmen betroffenen Personengruppen und Einrichtungen.
  • ressortübergreifendes Agieren und Denken u. a. mit dem Bildungsbereich, der Stadtentwicklung und dem Wohnbau.

2. Maßnahmen
Kunst­ und Kulturfördergesetz

  1. Wien ist das einzige österreichische Bundesland, das bis heute über kein Kunst­ und Kulturfördergesetz verfügt. Es existiert daher keine explizit darauf bezogene, ausdifferenzierte gesetzliche Eigenverpflichtung von Wien zur Förderung und sonstigen Unterstützung von Kunst und Kultur. Auch die Ausgewogenheit und Angemessenheit von Maßnahmen können nur mit einer objektiven gesetzlichen Grundlage geschaffen und überprüft werden. Für ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Fördernden und Geförderten ist ein Wiener Kunst­ und Kulturfördergesetz ebenfalls unerlässlich. Daher fordern wir die Ausarbeitung eines Kunst­ und Kulturfördergesetzes gemeinsam mit allen relevanten Akteur/inn/en und ihren Interessenvertretungen.
  1. Kulturstrategie für Wien
    Kulturpolitisches Handeln in Wien geschieht hauptsächlich anlassbezogen. Was fehlt, ist eine über anlassgebundene Entscheidungen hinausgehende Gesamtstrategie. Wien war in seiner Doppelfunktion als Bundesland und Bundeshauptstadt in früheren Jahrzehnten, z. B. in der Schaffung von Literaturinstitutionen oder in der Entwicklung der freien Theaterszene, immer wieder federführend. Der Kulturbereich hat sich mittlerweile in den Modus der Weiterverwaltung begeben. Wien braucht einen Planungsneustart für den Kunst­ und Kulturbereich, auch unter Einbeziehung internationaler und erprobter Best­Practice­Modelle.
  1. Angemessene Förderungen
    Es ist unübersehbar: Die Förderungen der freien Szene haben mit den Entwicklungen nicht Schritt gehalten. Die Mittel sind inzwischen dermaßen gebunden, dass es nicht einmal mehr möglich ist,unbürokratisch und zeitnah kleinste Förderungen zu erhalten. Diskrepanzen zwischen Bedarf und gewährter Förderung werden schulterzuckend zur Kenntnis genommen. Es braucht ein Neudenken der Fördervergabe mit dem Fokus auf Verteilungsgerechtigkeit und eine Erhöhung des Budgets für die freie Kunst­ und Kulturszene.
    Die Jahresprogrammförderung ist auszubauen, um der für Kunst und Kultur wichtigen Infrastruktur zu mehr Kontinuität zu verhelfen.
    Faire Bezahlung sowie rechtskonforme Beschäftigungsverhältnisse müssen Förderbedingung sein und Förderungen in dementsprechender Höhe vergeben werden. Von den Interessenvertretungen erarbeitete Honorarrichtlinien sind hier relevante Gradmesser.
  1. In Dialog treten
    Viele Jahre fand in Wien eine paternalistische Kulturpolitik „von oben herab“ statt, die Kunst­ undKulturschaffende marginalisierte und entmündigte. Es ist Zeit für einen neuen Stil des kontinuierlichen und strukturierten Dialogs der Politik mit Kunst­ und Kulturschaffenden und deren Interessenvertretungen. Maßnahmen des Kulturressorts sind an die Bedürfnisse von Kunst­ und Kulturschaffenden anzupassen, nicht umgekehrt, das Know­how ihrer Interessenvertretungen ist einzubinden. Das geht nur in einem gegenseitigen wertschätzenden Austausch, der mindestens vier Mal im Jahr in Form eines Gesprächsforums erfolgen soll. Darüber hinaus sind anlassbezogene Arbeitsgespräche in kleinen Runden erforderlich und müssen zeitnah möglich sein.
  1. Räume schaffen
    Freie Kunst­ und Kulturarbeit braucht Frei­Raum. Kunst­ und Kulturschaffenden fehlt zunehmend Raum für künstlerische Produktion (Werkstätten, Proberäume, Ateliers), für Veranstaltungen, Präsentation, partizipatives Arbeiten, Bildung und Austausch. Ebenso besteht Bedarf an selbstverwalteten und barrierefreien Begegnungsräumen, die kostenfrei nutzbar sind. Die Politik ist gefordert, die Nutzung, Erhaltung und Bereitstellung solcher Frei­Räume für Kunst­ und Kulturschaffende, für Initiativen und Vereine zu ermöglichen, und dabei gegen Gentrifizierung aufzutreten, stadteigene Leerstände zu öffnen, Strategien für die Sichtbarmachung von freier Kunst­ und Kulturarbeit (im Webspace wie auch im Stadtraum) zu entwickeln, vermehrt Infrastruktur zu fördern sowie Erleichterungen bei der Durchführung von Klein­ und Eigenveranstaltungen zu schaffen.
  1. Faire und gerechte Arbeitsbedingungen
    Gerade die freie Szene in Wien unterliegt prekären Arbeitsbedingungen. Wir brauchen rechtssichere und langfristig wirkende Modelle für ein selbstständiges Berufsleben von Kunst­ und Kulturschaffenden. Die finanziellen, rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen müssen adaptiert werden, um endlich wirtschaftliche und soziale Sicherheit für Akteur/innen der freien Szene zu gewährleisten.
  1. Freier und gerechter Zugang zu Förderungen und Schaffung transparenter Förderrichtlinien
    Alle Gruppen und Generationen von Akteur/innen der freien Szene müssen – über jegliches mögliche Hindernis hinweg – einfachen Zugang zu Förderungen erhalten. Die Stadt Wien muss hierfür ein Verfahren entwickeln, welches unabhängig von Geschlecht, Sprache, Alter, Herkunft, sozialem Status, Betreuungspflichten oder sonstigen Hindernissen die Teilhabe am Kunst­ und Kulturfördersystem ermöglicht.
    Wiener Kulturinstitutionen sollten in ihrer Programmgestaltung außerdem seitens der Stadt besonders bestärkt und unterstützt werden, strategisch Formate zu entwickeln, die Menschen aller sozialen sowie kulturellen Hintergründe ansprechen, aktivieren und zur Partizipation am kulturellen Leben der Stadt einladen. Dies soll durch entsprechende Jury­ und Beiratszusammensetzungen sowie einer dies berücksichtigenden Besetzungspolitik geschehen, damit auch (post)migrantische, queere, feministische, antirassistische und andere gegenhegemoniale Positionen vermehrt sichtbar werden.
    Förderrichtlinien, die Objektivierung, Transparenz und Demokratisierung der Förderungen sowie begründete Förderentscheidungen ermöglichen, sind zu erarbeiten – und zwar gemeinsam mit den jeweiligen Szenen. Die jeweiligen Förderschienen sind durch eigene Richtlinien klar voneinander abzugrenzen.
  1. Den öffentlichen Raum zugänglich machen
    Der öffentliche Raum in Wien wird weniger. Einerseits werden immer mehr Konsumflächen geschaffen, andererseits wird immer mehr öffentlicher Raum privaten Nutzungen zugeführt. Eine strenge Reglementierung der Straßenkunst besorgt den Rest. Der öffentliche Raum darf nicht zugunsten von Kommerzialisierung und Privatisierungen verschwinden, er muss für künstlerische Nutzungen erhalten und geöffnet bleiben. Dringenden Änderungsbedarf orten wir beim Veranstaltungsgesetz und der Straßenkunstverordnung. Zudem fehlt es an legal nutzbaren, kostenfreien Plakatflächen für künstlerische und kulturelle Aktivitäten an attraktiven Standorten.
  1. Kunst­ und Kultur im Pflichtschulbereich stärken
    Wien braucht eine ressortübergreifende Strategie zur Stärkung der Kunst und Kultur im Pflichtschulbereich im Sinne der Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen am kulturellen Leben und der nachhaltigen Erschließung neuer Publikumsschichten. Verstärkt gefördert werden müssen künstlerische Projekte und Kulturvermittlungsprojekte an und mit Schulen. Dass finanzielle Barrieren die Wahrnehmung kultureller Angebote durch Schulen erschweren (wie z. B. der Erwerb von Eintrittskarten, Teilnahmegebühren), muss durch die Schaffung entsprechender finanzieller Unterstützungsmaßnahmen verhindert werden.
  1. Einhaltung des Weltkulturerbevertrags und Umsetzung der UNESCO Kulturkonvention
    Die Republik Österreich und Wien haben sich gegenüber der UNESCO vertraglich zur Erhaltung des Wiener Weltkulturerbes verpflichtet. Das Heumarkt­Projekt in der derzeitigen Form widerspricht dem Vertrag. Wien muss daher seine Bewilligung zur Errichtung dieses Projektes wieder zurücknehmen. Weiters ist Wien zur Umsetzung der von Österreich mitunterzeichneten UNESCO­Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen aufgefordert. Ziel muss sein, auch jene 45 % der Bevölkerung in Wien mit Migrationshintergrund sowie alle anderen Bevölkerungsgruppen, die nicht zur Mehrheitskultur gehören, stärker bei allen Maßnahmen zur Förderung von Kunst und Kultur zu berücksichtigen.

 

Unterzeichnet von:

Assitej Austria – Junges Theater Österreich

Dachverband der Österreichischen Filmschaffenden

Dreisechsfünf 

IG Autorinnen Autoren

IG bildende Kunst

IG Freie Theaterarbeit

IG Kultur Wien

Initiative für eine freie Wiener Musikszene / Mit der Stadt reden

Musikergilde

Österreichischer Musikrat

Österreichischer Komponistenbund

Sprecher_innen Straßenkunst Wien (Sabine Mahringer und Abraham Till)

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