Corona und Theater – Artikel von Michael Isenberg

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Würfel

„Längst gelten die ökonomischen Imperative auch dort, wo der Mensch spielt und damit ganz Mensch ist.“ So lautete eine der Sechs Thesen zum deutschen Theater, die der Publizist Thomas E. Schmidt 1994 in einem Artikel für die Frankfurter Rundschau aufstellte. Sein Aufsatz war ein wichtiger Diskussionsbeitrag in der Debatte um die Finanzierung der deutschen Stadt- und Staatstheater vor dem Hintergrund der Finanzkrise von 1992. In den kommenden Monaten bezogen zahlreiche Theatermacher Stellung zu Schmidts Thesen, ihre Plädoyers wurden 1995 in dem Buch Warum wir das Theater brauchen[1] gesammelt abgedruckt. Da heißt es unter anderem, die Finanzpolitik dürfe nicht die Existenzberechtigung der Theater bestimmen (Ulrich Greb), Theater seien Statthalter der Schwachen (Ulrich Khuon) und dienten dem Erhalt der Utopiefähigkeit einer Gesellschaft (Peter Eschberg).

25 Jahre später: Angesichts einer neuen Form der Wirtschaftskrise[2], wie wir sie gegenwärtig erst im Anfangsstadium erleben, und der vorübergehenden Schließung aller Theater[3] auf noch unbestimmte Zeit,[4]sind die aktuellen Folgen der Krise für die Theaterszene noch kaum abzusehen. Besonders hart trifft es Privattheater und selbstständig Beschäftigte, die von enormen Verdienstausfällen betroffen sind und nur wenig Rücklagen haben. Aber auch die öffentlich subventionierten Theater und ihre festangestellten Mitarbeiter*innen spüren die ersten Folgen.

Unter den verschärften Bedingungen der derzeitigen Krise treten die negativen Folgen unseres neoliberalen Wirtschaftssystems deutlich hervor. Es wäre daher gar nicht zu wünschen, dass die Theater nach der derzeitigen Situation wieder zu einer „alten Normalität“ zurückfinden, sondern dass neue Lösungen für schon länger währende strukturelle Probleme entwickelt und in die Tat umgesetzt werden. Die „Ideengrundlage ist brüchig geworden, auf welcher der Turmbau der subventionierten Kultur errichtet worden war“, heißt es bei Thomas E. Schmidt Mitte der 90er-Jahre. Wenn wir angesichts der derzeitigen Situation die Vorstellung von Theater als Ort gesellschaftlicher Reflexion, Kritik und Utopie nicht völlig verlieren wollen, braucht es ganz konkrete Überlegungen und Maßnahmen, die sich klar gegen ein neoliberales Denken stellen.

Verteilungsgerechtigkeit

2014 veröffentlichte die Plattform theaterjobs.de eine Vermögensumfrage unter Schauspieler*innen im deutschsprachigen Raum. Darin heißt es, rund ein Viertel der Befragten sei dauerhaft armutsgefährdet. Sören Fenner, der Geschäftsführer des Portals, resümiert: „Unsere befragten Theaterleute verdienen wenig, haben unsichere Beschäftigungsverhältnisse und Frauen verdienen deutlich weniger als Männer. Gleichzeitig werden auf dieser Basis Inszenierungen produziert, die ethische Grundwerte wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Verantwortung an ihr Publikum vermitteln. Wie passt das zusammen?“[5]

Besonders das Verhältnis zwischen dem Einkommen fest angestellter und selbstständig Beschäftigter klafft laut der Studie weit auseinander. Selbstständige im Kulturbereich sind daher auch besonders von den akuten Gagenausfällen in der derzeitigen Krise betroffen. Regierungen in Österreich, Deutschland und der Schweiz haben daher schnelle Hilfsmaßnahmen in die Wege geleitet,[6] verschiedene Initiativen und Fonds wurden ins Leben gerufen,[7] die Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen hat neue Dringlichkeit erhalten.[8]

Dennoch liegt eine akute Verantwortung bei den gut subventionierten Theatern,[9] ihre Vereinbarungen mit selbstständigen Beschäftigten soweit es geht aufrechtzuerhalten und sich auch für ihre Angestellten einzusetzen (so empfiehlt etwa ein Bündnis der Künstlergewerkschaften keine Kurzarbeitsregelung im Theaterbereich, allenfalls zur Deckung des Betrags fehlender Kartenerlöse[10]). Damit nicht jede/r Geschäftsführer*in die Verantwortung auf den eigenen Schultern trägt, wäre eine Verständigung der Häuser untereinander und eine gemeinschaftliche Strategie nötig, die sich verantwortungsvoll für die Rechte der freien und festangestellten Mitarbeiter*innen einsetzt, unterstützt von den verantwortlichen Kulturpolitiker*innen. Auf längere Sicht wird es unumgänglich sein, die Einkommensschere und den Gender Pay Gap im Theaterbereich anzugehen und die Einkommensverteilung insgesamt transparenter zu machen, damit das Ideal der Gerechtigkeit nicht nur auf den Bühnen verhandelt wird.

Solidarische Vielfalt

Im Neoliberalismus entsteht Vielfalt aus einem Konkurrenzverhältnis, kreativ ist hier nur „das Neue, das sich durchsetzt“[11]. Im Theater ist Vielfalt nicht mit ökonomischen Kategorien der Innovation und des Erfolgs zu messen. Die Theaterlandschaft lebt vom Nebeneinander verschiedener Ausdrucksformen und der ständigen, nicht auf Erfolg zielenden Befragung unserer Sehgewohnheiten und Wertmaßstäbe.

Es ist daher für die Vielfalt der Theaterlandschaft gefährlich, wenn unternehmerisches Denken und quantitative Kriterien wie Auslastung und Effizienz den Diskurs immer mehr bestimmen. Diese Gefahr verschärft sich noch angesichts der derzeitigen Krise. Viele Privattheater und kleinere Häuser werden die Krise wahrscheinlich nicht überleben. Und auch die Spielpläne der subventionierten Häuser, die den fehlenden Eigenanteil durch ausfallende Kartenerlöse kompensieren müssen, könnten in Zukunft um Produktionen ärmer werden, die aufgrund eines höheren künstlerischen Risikos notwendigen Sparmaßnahmen zum Opfer fallen. „Weniger Kritik = mehr Kitsch!“, so fassten Mitte der 90er die Theatermacher Frank M. Raddatz und Friedrich Schirner die möglichen Folgen der Finanzkrise für die Theater pointiert zusammen.[12]

Es liegt daher in der Verantwortung aller, die den Diskurs über Theater mitbestimmen, den Theatermacher*innen, Kritiker*innen und Kulturpolitiker*innen, die Vielfalt der Theaterlandschaft gegen neoliberales Denken zu verteidigen. Die derzeit gern beschworene Solidarität, die jedoch oft im Rahmen des eigenen Wahrnehmungshorizonts und rhetorische Floskel bleibt, sollte durch starke Allianzen und konkrete gemeinsame Strategien in ein praktisches Modell zur Rettung theatraler Vielfalt überführt werden.

Wert von Arbeit

Der ideologische Rahmen einer Gesellschaft bestimmt, welchen Arbeiten wir welchen Wert zuschreiben. Das Theater muss seinen Wert in der Gesellschaft angesichts öffentlicher Subventionsgelder immer wieder neu legitimieren. Es steht dabei im Zwiespalt, weiten Teilen der Gesellschaft, also auch ärmeren Menschen, offen zu stehen und gleichzeitig seine Mitarbeiter*innen fair für ihre Arbeit zu bezahlen.

Um die gesellschaftliche Bedeutung der Institution Theater auch in Zeiten geschlossener Bühnen weiterhin zu rechtfertigen, haben viele Theater damit begonnen, ihre Aktivitäten ins Internet zu verlagern. Dabei reicht das Angebot von künstlerischen Lebenszeichen einzelner Künstler*innen aus dem eigenen Wohnzimmer, über aktuelle und historische Aufzeichnungsmitschnitte bis hin zu neuen Formaten, die direkt für das Internet entwickelt werden. Die Dramaturgin Katja Grawinkel-Claassen spricht dabei von einem „Corona-Reflex“: „Hier bricht sich der Rechtfertigungsdruck Bahnen, den öffentliche Institutionen in der neoliberalen Kultur längst vor Corona verinnerlicht haben. Wir müssen immer mehr produzieren, immer mehr zeigen, immer mehr gesellschaftliche Aufgaben übernehmen, Relevanz performen und beweisen!“[13]

Aber nicht nur, dass der Rechtfertigungsdruck den Produktionszwang weiter aufrechterhält, wo eigentlich Reflexion notwendig wäre, ist es problematisch, dass die Mehrzahl dieser Online-Angebote weitgehend kostenlos zur Verfügung gestellt wird. Die österreichische Filmemacherin und Moderatorin Elisabeth Scharang schreibt hierzu: „Wieso spielen, lesen, streamen, schreiben die vielen Künstler*innen, denen Medien allerorts Onlinebühnen zur Verfügung stellen alle ohne Eintritt? Wir bezahlen ja auch für alles andere, was wir uns nach Hause liefern lassen. Nach dem ersten Schock und den wichtigen spontanen Aktionen aus dem Kunstbereich sollte man wieder daran denken: Kunst und Kultur ist kein frei verfügbares Unterhaltungsprogramm; die Menschen, die Kunst machen, leben davon.“[14]

Auch wenn Bezahl- oder Spendenoptionen nicht die Ausfälle realer Einnahmen decken und Online-Angebote das Theatererlebnis nicht ersetzen können, sollten die Theater auf die ökonomischen Bedingungen ihrer Arbeit gerade in diesen Zeiten verstärkt hinweisen. Angesichts einer fortschreitenden Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche ist es wichtig, dass wir die naive Vorstellung, dass Dienstleistungen im Internet allen kostenlos zur Verfügung stehen müssen, nicht weiter fortschreiben. Weder Applaus, noch Klicks, sind das Brot der Künstler*innen, das sie zum Leben brauchen.

Fazit: Theater als Ort der Kritik und Utopie

In den siebziger und achtziger Jahren prägten Ausdrücke wie „Laboratorium der sozialen Phantasie“, „Kultur für alle“ oder „subventionierte Opposition“ die Debatten über die Funktion von Theater in der Gesellschaft. Schon Anfang der 90er-Jahre meinte Thomas E. Schmidt sei diese Ideengrundlage brüchig geworden. Es liegt in der Verantwortung aller, die die gesellschaftliche Bedeutung von Theater anerkennen, dieses Erbe gegen ein neoliberales Wirtschaftssystem wieder ins Spiel zu bringen und den Mut zu haben, radikal zu sein – radikal im Denken und radikal in der Praxis eines solidarischen und lustvollen Miteinanders. Nehmen wir diese Verantwortung angesichts der aktuellen Krise nicht wahr, werden wir in Zukunft weniger Orte vorfinden, an denen der Mensch ganz Mensch ist, indem er spielt.

Dank an Bérénice Hebenstreit, Veronika Maurer und Sara Ostertag für den inhaltlichen Austausch.

Von Michael Isenberg

[1] Peter Iden (Hg.), Warum wir das Theater brauchen, Frankfut am Main 1995

[2] https://www.deutschlandfunkkultur.de/wirtschaftshistoriker-ueber-finanz-und-coronakrise-wir.1008.de.html?dram:article_id=473684

[3] Seit dem 12. März sind in Österreich alle Veranstaltungen über 100 Personen abgesagt, seit dem 16. März alle kulturellen Veranstaltungen. In der Schweiz wurden erste Einschränkungen bereits am 28. Februar beschlossen. Mittlerweile sind auch in Deutschland sämtliche Theater geschlossen.

[4] In Österreich laut Pressekonferenz vom 6. April mindestens bis Ende Juni.

[5] http://www.miz.org/dokumente/2013_Verguetungsumfrage_Theaterjobs.pdf

[6] https://freietheater.at/covid-19-help/faq/

[7] Z.B. https://ensemble-netzwerk.de/enw/spendenkampagne-aktionsbuendnis/

[8] Z.B. https://mein.aufstehn.at/petitions/grundeinkommen-in-der-corona-krise-1 ; https://www.deutschlandfunkkultur.de/bedingungsloses-grundeinkommen-die-zeit-ist-reif-fuer-das.1005.de.html?dram:article_id=474106

[9] Die öffentliche Förderung liegt im Schnitt bei 80 bis 90%.

[10] https://www.buehnengenossenschaft.de/gemeinsame-erklaerung-von-dov-gdba-und-vdo-kurzarbeit-bei-oeffentlich-finanzierten-theatern-und-orchestern

 [11] Ulrich Bröckling, Kreativität, in: Ders. (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt am Main 2004, S. 142

[12] Peter Iden (Hg.), Warum wir das Theater brauchen, Frankfut am Main 1995, S. 25.

[13] https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=17857:liveness-im-digitalen-raum&catid=101:debatte&Itemid=84

[14] Öffentliches Facebook-Posting von Elisabeth Scharang.

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