Blog: Neue digitale Formate in der darstellenden Kunst: punktlive.de (Netzwerktreffen)

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mit Leonard Wölfl und Cosmea Spelleken von punktlive.de

Entstehung:

«Wenn ich noch einen Stream sehen muss, wo die Bühne 1:1 abgefilmt wird oder noch ein Handyvideo, wo ein:e Schauspieler:in aus einem Roman vorliest, flippe ich aus.»

Das war der Grundstein für das Projekt werther.live.

«Was mit Briefen funktioniert, sollte doch auch mit Mails gehen», denkt sich die Medienkünstlerin und Regisseurin Cosmea Spelleken. So entsteht die Idee für «Die Leiden des jungen Werthers» in Form eines digitalen Theaterstücks.

  • Das neu gegründete Künstler:innenkollektiv entwickelte im Mai 2020 das digitale Theaterstück live aus einem Bedürfnis nach Theater und Kultur während der Pandemie.
  • Durch die Ortsungebundenheit wurden etliche Förderansuchen der öffentlichen Hand abgelehnt, ebenso blieb die Suche nach Koproduktionspartner:innen erfolglos, so wächst es als Experiment von selbst.
  • Durch Mundpropaganda und Medienberichten auf nachtkritik.de und der New York Times wurde es zu einem Selbstläufer.
  • live wurde mit dem Deutschen Multimedia Preis 2020 ausgezeichnet und beim nachtkritik-Theatertreffen 2021 unter die zehn besten Stücke des Jahres gewählt.

Entwicklung und Aufbau:

  • Für jedes physische Element galt es, eine digitale Übersetzung zu finden. Die Erstellung der Figuren erfolgte mit digitalen Identitäten. Es wurden diverse Accounts für die Charaktere erstellt und mit Content gefüttert. Das jeweilige digitale Medium (Instagram, WhatsApp, Facebook etc.) sollte im Austausch mit dem Inhalt und der Figur stehen. Cosmea meint dazu: «Es hat Spaß gemacht die Figuren auszubauen, sie ins Heute zu stellen und in sie hineinzugehen. Die Idee, diese Accounts auch zur Interaktion zu nutzen, war Teil des Konzepts. Wir wollten, dass man auch privat ihre Welt entdecken und in ihren Accounts stöbern kann.»
  • Casting und Schauspiel fanden online statt. Die Figuren begegneten sich über ein Jahr lang nicht physisch. Geprobt wurde online in kurzen Intervallen über einen langen Zeitraum. Das gab allen Beteiligten die Freiheit, von jedem Ort aus proben und aufführen zu können.
  • Die Entstehung des Drehbuchs erfolgte fragmentarisch. Nach dem Lesen des Stücks wurde improvisiert. Die Regisseurin sammelte die als spannend empfundenen Aspekte, kürzte diese und strukturierte das Stück zu einem halbwegs Ganzen: «Welche Plattform bespielt werden sollte. Welche Tabs im Hintergrund blieben. Was am Screen geschehen sollte und was Werther parallel dazu noch am Computer oder am Smartphone macht.» Dramaturgische Entscheidungen sind plötzlich die Bewegungen des Mauszeigers, die Helligkeit des Bildschirms etc.
  • Die Zuschauer:innen loggen sich mit ihrem Ticket ein und verfolgen online sofort was Werther alles im Web macht, zum Beispiel welche Nachrichten er verschickt. Man sieht was er nicht schreibt, was er löscht. Der Screen wird zu einem visuell multidimensionalen Ausdrucksfeld.
  • Es gibt stets ein Nachgespräch auf Zoom für die Künstler:innen, ebenso wie Publikumsgespräche nach einigen Vorstellungen

Technischer Ablauf:

  • Genutzt wird OBS, eine kostenlose Open-Source-Software für Live-Streaming.
  • Es wird mit drei Kameras von jeweils drei Screens gearbeitet und aus Deutschland an die Zentrale nach Wien gestreamt, hier erfolgt der Live-Schnitt.
  • Aus technischen Gründen wurden ein bis zwei Szenen vorproduziert, um sie für den digitalen Bühnenwechsel einzublenden. Bei mehreren Screens wird zwischen Figuren und Szenen hin und hergewechselt.
  • Das Team selbst steht während der Vorführungen in ständigem Kontakt miteinander. Mit unterschiedlichen Handys wird teils mit den Akteur:innen kommuniziert, um Anweisungen oder Informationen weiterzugeben, teils mit den Zuschauer:innen und auf deren Nachrichten geantwortet. Per Zoom, WhatsApp, Telegram und Signal, sind alle miteinander verbunden.
  • Technisch gesehen ist eine unbegrenzte Zuschauerzahl möglich. Jedoch wird die Interaktion bei höheren Zahlen an Beteiligten fast unmöglich. Deshalb wurde ein Limit von 800 Personen gesetzt, um den Abend interaktiv halten zu können.
  • Bei schwerwiegenden Verbindungsproblemen kann eine Aufzeichnung zwischengeschaltet werden.

Finanzierung:

  • Die Finanzierung erwies sich als schwierig, da kein Fördermodell für ein ausschließliches Online-Format existierte, auch regionale Förderungen wurden nicht gewährt, da das Kollektiv online und damit grenzübergreifend arbeitet.
  • Die Posten im Vergleich zu einer „normalen“ Kalkulation änderten sich: Zwar gab es keine Kosten für Raumnutzung u.Ä., jedoch fielen andere Kosten wie private Stromversorgung, Kosten für Internet und WLAN und für eine längere Probenphase, da das Format erst gefunden werden musste. Es brauchte Zeit, um die Social-Media-Kanäle zu bauen. Bühnenbild und Kostüme müssen zuhause, teils von den Figuren gehandhabt werden. Die Infrastruktur ist somit privater Natur. Die Frage, die sich hier stellt: Wie budgetiert man private Ressourcen?
  • Das Kollektiv entschied sich bewusst gegen einen kostenlosen Stream, ebenso wie gegen einen „normalen“ Eintrittspreis. Der Ticketpreis belief sich schlussendlich auf € 4,-.

Leonard Wölfl (Website, Ticketing und technische Konzeption) arbeitet nebenbei als freier Filmemacher und Medienpädagoge in Freiburg.

Cosmea Spelleken (Regie und Konzeption) ist aufgewachsen in Freiburg uns sammelte ihre erste Theatererfahrungen beim Cargo-Theater. Sie studierte Medienkunst an der HFG Karlsruhe und seit 2020 Regie an der Filmakademie Wien. In einer Umfrage 2021 von „Theater heute“ wurde sie zur Nachwuchsregisseurin des Jahres gewählt.

 

Die nächste Premiere von Tschechows «Möwe» wird am 11.12 in Koproduktion mit dem Theater Nürnberg live gestreamt. Alle Infos unter www.punktlive.de

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